Was hat Harvey Weinstein mit Willy Seidel zu tun?

Bei einer Recherche für Zwielicht Classic stieß ich auf den Namen Willy Seidel, deutschsprachiger Phantastikschriftsteller des vergangenen Jahrhunderts. In  seinem Wikipedia Eintrag ließ mich folgender Satz zum Autor aufhorchen:
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten war er einer der 88 Schriftsteller, die im Oktober 1933 das Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler unterzeichnet hatten. Seidel starb ein Jahr später nach einem unfallbedingten, längeren Krankenhausaufenthalt an einem Herzanfall.


Jetzt kann es diverse Gründe geben warum jemand auf solche einer Liste landet. Aber generell würde man heutzutage pauschal alle verurteilen, die auf einer solchen Liste stehen oder Mitglied der NSDAP waren (je früher desto) oder überhaupt eine ähnliche Einstellung haben wie es die Nationalsozialisten hatten.


Dabei wird in der Regel nicht berücksichtigt, ob sich ähnliches Gedankengut auch in den Texten der Autoren wiederfindet bzw. wie stark es dort vertreten ist. Ich habe zuletzt ein paar Bände unter der Herausgeberschaft von Robert Bloch gelesen, die ebenfalls aus der Weimarer Zeit oder davor waren. Da waren einige Geschichten dabei, denen man zumindest eine verächtliche Einstellung zu Negern attestieren könnte. Allerdings findet man diese Einstellung bei vielen Autoren vor 1933 (auch unabhängig von der Nation) und somit ist schwer zu sagen, sollte man diese Menschen dafür verurteilen oder es einfach zur Kenntnis nehmen und sich seinen Teil denken, also es damit zu rechtfertigen, dass es der damaligen Zeit geschuldet ist.

Aktuell findet man viele Diskussionen über den Islam und da sind einige zeitgenössische Autoren dabei, die in ein entsprechendes Horn blasen, die man da mit über den gleichen Kamm scheren könnte. Und ich meinte damit nicht unbedingt die prominentesten Vertreter sondern auch solchen, von denen man das normalerweise nicht erwarten würde.
Wenn man die aktuelle Stimmung in Deutschland (und augenscheinlich auch in anderen Ländern, siehe Brexit) betrachtet, erkennt man einige Parallelen zu vergangenen Zeiten.
Für Autoren, die die Zeit nach 1933 noch nicht kannten, ist somit eine Einstellung, die eigentlich heute nicht zu akzeptieren ist, zumindest einordbar.

Aber wie geht man mit solchen Autoren um? Sollte man Willy Seidel verlegen, kaufen und lesen? Oder sollte man die alle meiden?

Meines Wissen das erste Buch aus der Dunklen Zeit, das ich gelesen habe, war Der Angeklagte schweigt. Von 1942 und es liest sich wie ein etwas schwerfälliger Gerichtsroman. Man kann dem Werk an sich nicht ansehen, ob der Autor ein Nazi war oder nicht. Rein vom Roman betrachtet wirkt es nicht so.
Wenn das Werk aber unbefleckt ist, ist es dann in Ordnung?


Ein anderer Aspekt ist mir dann eingefallen und wieder spielt aktuelles Geschehen  eine Rolle.
Was hat Harvey Weinstein mit Willy Seidel zu tun?


Auf den ersten Block möge man meinen nichts.
Harvey Weinstein hat das #me too ins Rollen gebracht: Eine Welle von Anschuldigungen zu sexuellen Belästigungen und schlimmerem. Weinstein hat, wie viele andere aus der Kaste der Mächtigen, ihre Machtposition ausgeübt und jemand sexuell bedrängt oder gar vergewaltigt.
Und plötzlich hat es jeder gewusst. Und distanziert sich. Verurteilt. Erhebt Anschuldigungen.
Serien werden abgesetzt, Produzenten und Schauspieler verdammt.
Und jedem ist bewusst, das ist die Spitze des Eisberges und darunter finden sich Ereignisse im Gestern, Heute und Morgen. Man erinnere sich nur an den Fall Polanski.


Man kann sich jetzt natürlich fragen, warum haben alle geschwiegen. Die Opfer, die Mitwisser, die Feinde.
Wenn man die Lawine sieht, die gerade losgetreten wird, fragt man sich:
Wozu sind Menschen alles bereit wegen Erfolg, wegen Geld, wegen Macht, wegen Furcht?


Unabhängig vom Weinsteinskandal kann man sich natürlich fragen, wie würde man selbst in einer ähnlichen Situation reagieren? Aufstehen und reden oder schweigen? Wie weit würde man sich korrumpieren lassen, damit man in seinem Beruf weiter fest im Sattel sitzt? Welche größere und kleinere Vorteile nutzt man auf dem Rücken anderer oder nimmt ihre Benachteiligung entweder billigend in Kauf oder nutzt sie?


Und eine weitere Frage stellt sich: Findet aktuell das Gegenteil statt und es gibt eine Hexenjagd gegen jeden und alles wie es ein deutscher Bestsellerautor auf Facebook postete?
Das ist ein Aspekt, den man nicht vernachlässigen darf. Muss jetzt jede auch noch so kleine Verfehlung geahndet werden oder wie ist mit dieser Empörungswelle umzugehen? Wo fängt Aufklärung an und hört Denunziation auf?


Und wenn man jetzt erneut die Frage stellt: Was hat Harvey Weinstein mit Willy Seidel zu tun?


So wie Brüderle einen Männerwitz riss und sich dabei auch noch gut vorkam, so hatte Willy Seidel und seine Zeitgenossen die Meinung, Neger seien Untermenschen und so wie sich alle, selbst die vergewaltigen Frauen, sich dem System Weinstein unterordneten, so biederten sich die Menschen den Nazis an. Deren perfides System von Angst und Kontrolle konnte man sich mit Sicherheit noch schwerer entziehen als der aktuellen Kaste der Mächtigen.
Kann man also Willy Seidel und seine Genossen verstehen oder nicht, selbst wenn man deren Handeln nicht gutheißt?


Am Ende der Gedankengänge bin ich mir immer noch nicht sicher, wie mit Autoren wie Seidel umzugehen ist. Einerseits sollte man aus meiner Sicht Werk und Person trennen. Andererseits ist man nicht auch ein Puzzle des Systems, das man weiter oben anprangert, wenn man so denkt?


Eines erscheint mir aber sicher. Bei aller Kritik an denen, die sich mit den Nationalsozialisten ins Bett legten, sollte man sich im Klaren sein, ohne die heutige Erfahrung, würde die Mehrheit der Menschen ähnlich reagieren wie damals. Die aktuellen Krisen sind da ein deutlicher Fingerzeig.
Und wie man selbst reagieren würde, kann man nur versuchen selbst einzuschätzen. Der Lauf der Dinge wird dann weisen, ob man Recht behält.
Und ein wenig Demut im eigenen Urteil würde wohl jedem guttun.

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